Landgericht Köln, 151 Ns 169/11

Im Namen des Volkes

Die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Amt­sgerichts Köln vom 21.09.2011 wird verworfen. Die Staats­kasse trägt die Kosten des Verfahrens und die dem Ange­klagten entstandenen not­wendigen Aus­lagen.

Gründe:

  1. Die Staatsanwaltschaft Köln wirft dem Angeklagten vor, am 04.11.2010 in Köln eine andere Person mittels eines gefähr­lichen Werkzeugs körper­lich miss­handelt und an der Gesund­heit geschädigt zu haben (§§ 223 Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2, Alternative 2 StGB): Am 04.11.2010 führte der Ange­klagte in seiner Praxis in der S-Straße in Köln unter örtlicher Betäu­bung die Beschnei­dung des zum Tatzeit­punkt vierjährigen xx mittels eines Skal­pells auf Wunsch von dessen Eltern durch, ohne dass für die Operation eine medizinische Indi­kation vorlag. Er vernähte die Wunden des Kindes mit vier Stichen und versorgte ihn bei einem Haus­besuch am Abend desselben Tages weiter. Am 06.11.2010 wurde das Kind von seiner Mutter in die Kinder­not­aufnahme der Universitäts­klinik in Köln gebracht, um Nach­blutungen zu behandeln. Die Blutungen wurden dort gestillt. Das Amts­gericht Köln hat den Angeklagten mit Urteil vom 21.09.2011 (528 Ds 30/11) auf Kosten der Staats­kasse frei­gesprochen. Gegen dieses Urteil hat die Staats­anwalt­schaft Köln form-­ und frist­gerecht Berufung eingelegt. Das Rechts­mittel hatte im Ergebnis keinen Erfolg.

  2. Der Vorwurf der Staats­anwalt­schaft hat sich in tatsächlicher Hinsicht in der Haupt­verhandlung bestätigt. Der Ange­klagte hat das äußere Geschehen in vollem Umfange ein­geräumt. Ergänzend hat die Kammer fest­gestellt, dass die Familie des Kindes dem islamischen Glauben angehört. Der Angeklagte führte die Beschnei­dung aus religiösen Gründen auf Wunsch der Eltern durch. Auf­grund des von der Kammer einge­holten Sach­verständigen­gutachtens steht fest, dass der Angeklagte fachlich einwand­frei gear­beitet hat. Ein Behandlungs­fehler liegt nicht vor. Außer­dem besteht - so der Sach­verständige - jeden­falls in Mittel­europa keine Notwendigkeit Beschnei­dungen vor­beugend zur Gesund­heits­vorsorge vor­zunehmen.

  3. Der Angeklagte war aus rechtlichen Gründen frei­zusprechen.

    Der äußere Tatbestand von § 223 Abs. 1 StGB ist erfüllt. Nicht erfüllt sind die Voraus­setzungen von § 224 Abs. 1 Nr. 2, Alter­native 2 StGB. Das Skalpell ist kein gefährliches Werk­zeug im Sinne der Bestimmung, wenn es - wie hier - durch einen Arzt bestimmungs­gemäß verwendet wird (vgl. BGH NJW 1978, 1206; NStZ 1987, 174).

    Die aufgrund elter­licher Ein­willigung aus religiösen Gründen von einem Arzt ordnungs­gemäß durch­geführte Beschneidung eines nicht ein­willigungs­fähigen Knaben ist nicht unter dem Gesichts­punkt der sogenannten "Sozialadäquanz" vom Tat­bestand aus­geschlossen. Die Ent­wicklung der gegen­teiligen Auf­fassung durch Exner (Sozial­adäquanz im Strafrecht - Zur Knaben­beschneidung, Berlin 2011, insbesondere Bl. 189 f.) über­zeugt nicht. Die Eltern bzw. der Beschneider sollen dem­nach nicht über § 17 StGB ent­schuldigt sein. Der Veran­lassung der Beschnei­dung durch die Eltern soll auch keine recht­fertigende Wirkung zukommen, da dem Recht der Eltern auf religiöse Kinder­erziehung in Abwägung zum Recht des Kindes auf körperliche Unversehrt­heit und auf Selbst­bestimmung kein Vorrang zukomme, so dass mit der Ein­willigung in die Beschnei­dung ein Wider­spruch zum Kindes­wohl fest­zustellen sei. Gleich­wohl soll der gegen das Kindes­wohl verstoßende und nicht entschuldigte Vorgang sozial unauffällig, all­gemein gebilligt und geschicht­lich üblich und daher dem formellen Straf­barkeits­verdikt entzogen sein.

    Nach richtiger Auffassung kommt der Sozial­adäquanz neben dem Erforder­nis tatbestand­spezifischer Verhaltens­miss­billigung keine selbst­ständige Bedeutung zu. Die Sozial­adäquanz eines Verhaltens ist vielmehr lediglich die Kehr­seite dessen, dass ein recht­liches Miss­billigungs­urteil nicht gefällt werden kann. Ihr kommt nicht die Funktion zu, ein vor­handenes Miss­billigungs­urteil aufzuheben (vgl. Freund in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., vor §§ 13 ff. Rn. 159; im Ergebnis ebenso: Fischer, StGB, 59. Aufl., § 223 Rn. 6 c, anders noch bis zur 55. Aufl., § 223 Rnr. 6 b; wie hier ferner: Herzberg, JZ 2009, 332 ff.; derselbe Medizin­recht 2012, 169 ff.; Putzke NJW 2008, 1568 ff.; Jerouschek NStZ 2008, 313 ff.; a.A. auch: Rohe JZ 2007, 801, 802 und Schwarz JZ 2008, 1125 ff.).

    Die Handlung des Angeklagten war auch nicht durch Ein­willigung gerecht­fertigt. Eine Ein­willigung des seiner­zeit vier­jährigen Kindes lag nicht vor und kam mangels hin­reichender Verstandes­reife auch nicht in Betracht. Eine Ein­willigung der Eltern lag vor, vermochte indes die tat­bestands­mäßige Körper­verletzung nicht zu recht­fertigen.

    Gemäß § 1627 Satz 1 BGB sind vom Sorge­recht nur Erziehungs­maßnahmen gedeckt, die dem Wohl des Kindes dienen. Nach wohl herrschender Auf­fassung in der Literatur (vgl. Schlehofer in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., vor §§ 32 ff. Rn. 43; Lenckner/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 28. Aufl., vor §§ 32 ff. Rn. 41; Jerouschek NStZ 2008, 313, 319; wohl auch Exner a.a.O.; Herzberg a.a.O.; Putzke a.a.O.) entspricht die Beschneidung des nicht einwilligungs­fähigen Knaben weder unter dem Blick­winkel der Ver­meidung einer Aus­grenzung inner­halb des jeweiligen religiös gesell­schaftlichen Umfeldes noch unter dem des elter­lichen Erziehungs­rechts dem Wohl des Kindes. Die Grund­rechte der Eltern aus Artikel 4 Abs. 1, 6 Abs. 2 GG werden ihrer­seits durch das Grund­recht des Kindes auf körperliche Unversehrt­heit und Selbst­bestimmung gemäß Artikel 2 Abs.1 und 2 Satz 1 GG begrenzt. Das Ergebnis folgt möglicher­weise bereits aus Artikel 140 GG i.V.m. Artikel 136 Abs. 1 WRV, wonach die staats­bürgerlichen Rechte durch die Ausübung der Religions­freiheit nicht beschränkt werden (so: Herzberg JZ 2009, 332, 337; derselbe Medizinrecht 2012, 169, 173).
    Jedenfalls zieht Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 GG selbst den Grund­rechten der Eltern eine verfassungs­immanente Grenze. Bei der Abstimmung der betroffenen Grund­rechte ist der Verhältnis­mäßigkeits­grundsatz zu beachten. Die in der Beschnei­dung zur religiösen Erziehung liegende Verletzung der körper­lichen Unversehrt­heit ist, wenn sie denn erforder­lich sein sollte, jeden­falls unange­messen. Das folgt aus der Wertung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB. Zudem wird der Körper des Kindes durch die Beschneidung dauer­haft und irreparabel verändert. Diese Veränder­ung läuft dem Interesse des Kindes später selbst über seine Religions­zugehörig­keit ent­scheiden zu können zuwider. Umgekehrt wird das Erziehungs­recht der Eltern nicht unzumutbar beein­trächtigt, wenn sie gehalten sind abzuwarten, ob sich der Knabe später, wenn er mündig ist, selbst für die Beschneidung als sicht­bares Zeichen der Zugehörig­keit zum Islam entscheidet (zu den Einzel­heiten vgl.: Schlehofer a.a.O.; a.A. im Ergebnis Fischer, 59. Aufl., § 223 Rn. 6 c; inzident wohl auch: OLG Frank­furt NJW 2007, 3580; OVG Lüneburg NJW 2003, 3290; LG Franken­thal Medizin­recht 2005, 243, 244; ferner Rohe JZ 2007, 801, 802 jeweils ohne nähere Erörterung der Frage). Schwarz (JZ 2008, 1125, 1128) bewertet die Ein­willigung unter Berück­sichtigung verfassungs­rechtlicher Kriterien als recht­fertigend, er geht jedoch nur auf die Eltern­rechte aus Artikel 4 und 6 GG, nicht hingegen â was notwendig wäre - auf die eigenen Rechte des Kindes aus Artikel 2 GG ein. Seine Auffassung kann schon aus diesem Grunde nicht über­zeugen.

    Der Angeklagte handelte jedoch in einem unvermeid­baren Verbots­irrtum und damit ohne Schuld (§ 17 Satz 1 StGB).

    Der Angeklagte hat, das hat er in der Haupt­ver­handlung glaubhaft geschildert, subjektiv guten Gewissens gehandelt. Er ging fest davon aus, als frommem Muslim und fach­kundigem Arzt sei ihm die Beschneidung des Knaben auf Wunsch der Eltern aus religiösen Gründen gestattet. Er nahm auch sicher an sein Handeln sei recht­mäßig.

    Der Verbotsirrtum des Angeklagten war unvermeidbar. Zwar hat sich der Angeklagte nicht nach der Rechts­lage erkundigt, das kann ihm hier indes nicht zum Nach­teil gereichen. Die Einholung kundigen Rechts­rates hätte nämlich zu keinem ein­deutigen Ergebnis geführt. Ein unvermeid­barer Verbots­irrtum wird bei ungeklärten Rechts­fragen angenommen, die in der Literatur nicht ein­heitlich beantwortet werden, insbesondere wenn die Rechts­lage insgesamt sehr unklar ist (vgl. Joecks in: Münchener Kommentar zum StGB, 2. Aufl., § 17 Rn. 58; Vogel in: Leipziger Kommentar zum StGB, 12. Aufl., § 17 Rn. 75; BGH NJW 1976, 1949, 1950 zum gewohnheitsrechtlichen Züchtigungs­recht des Lehrers bezogen auf den Zeit­raum 1971/1972). So liegt der Fall hier. Die Frage der Recht­mäßig­keit von Knaben­beschneidungen aufgrund Einwilligung der Eltern wird in Recht­sprechung und Literatur unter­schiedlich beant­wortet. Es liegen, wie sich aus dem Vor­stehenden ergibt, Gerichts­entscheidungen vor, die, wenn auch ohne nähere Erörter­ung der wesent­lichen Fragen, inzident von der Zulässig­keit fach­gerechter, von einem Arzt ausgeführter Beschneidungen ausgehen, ferner Literatur­stimmen, die sicher nicht unvertretbar die Frage anders als die Kammer beantworten.

  4. Die Kosten­entscheidung folgt aus § 473 Abs. 1 StPO.

 

www.winniewacker.de