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Soll die Beschneidung verboten werden?

Das Kölner Landgericht sprach vor zwei Monaten in zweiter Instanz ein Urteil, das seither international kontrovers diskutiert wird: Das Gericht sprach den Arzt, der von der Kölner Universitätsklinik angezeigt worden war, zwar frei, verurteilte jedoch grundsätzlich die Beschneidung Unmündiger auf Wunsch der Eltern. Der Arzt habe sich in einem „Verbotsirrtum“ befunden, also nicht gewusst, dass er Verbotenes tut. Für die Zukunft jedoch soll in Deutschland klar sein: Die Beschneidung von Kindern ist Unrecht. Denn Kindeswohl gehe vor Elternrecht und Religionsfreiheit. Das Urteil wurde weltweit kritisiert, doch Organisationen wie die  Deutsche Kinderhilfe, der Internationale Bund der Atheisten und Terre des Femmes begrüßten es. Und die Feministinnen? Auch ich meine, dass Kindeswohl vor Religionsfreiheit geht und das Elternrecht hierzulande oft eher zu unbeschränkt als zu beschränkt ist. Dennoch finde ich das Kölner Urteil falsch. Warum?

Etwa jeder dritte männliche Mensch weltweit ist beschnitten. Und das nicht nur aus religiösen oder kulturellen Gründen, sondern auch aus hygienischen. Bereits 2007 rieten sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die UN dringend zur Beschneidung von Männern: als Prävention gegen Aids, Peniskrebs und Gebärmutterhalskrebs. Denn letzterer wird verursacht von einem verunreinigten männlichen Penis.

Schon vor Jahrzehnten haben Studien belegt, dass Frauen von beschnittenen Männern bedeutend seltener an Gebärmutterhalskrebs erkranken. Und die WHO erhofft sich allein im südlichen Afrika innerhalb von 20 Jahren rund drei Millionen weniger Aidstote dank der Zirkumzision, wie die männliche Beschneidung heißt. Wie also konnte es zu so einem Urteil kommen?

Ich bin überzeugt, dass die eigentliche Ursache der geschlechternivellierende Kulturrelativismus ist. Denn vor gar nicht allzu langer Zeit – in den 1970er bis 1990er Jahren – wurde die lebensgefährliche und Lust-zerstörende Genitalverstümmelung von Mädchen ebenfalls noch als „Beschneidung“ bezeichnet. Und als die feministische Kritik an dieser verbrecherischen Praxis dann endlich ernst genommen - und nicht länger als „eurozentristisches Missverständnis weißer, privilegierter Frauenrechtlerinnen“ verspottet - wurde, da meldeten sich sogleich „Männerrechtler“, die erklärten: Männer würden schließlich auch beschnitten, das müsse also ebenso bekämpft werden. Was eine unerhörte Verharmlosung der Klitorisverstümmelung und eine Verschleierung der Beschneidungspraxis für Jungen ist.

Worum geht es genau bei diesem Eingriff? Die Vorhaut der Eichel wird teilweise oder ganz gekappt. Gesundheitsorganisationen wie die WHO begrüßen das, weil sie unter dieser Vorhaut leicht Schmutz und Viren sammeln, die bei Männern wie Frauen (beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr) zu Krankheit führen können.

Diese MedizinerInnen und GesundheitspolitikerInnen sind für die Beschneidung, ganz und gar unabhängig von religiösen oder kulturellen Einstellungen. Es handelt sich außerdem um einen sehr kleinen Eingriff, der innerhalb einer Viertelstunde durchgeführt ist und innerhalb weniger Tage verheilt. Bei Männern mit Phimose, einer Verengung der Vorhaut, ist der Eingriff sogar zwingend, weil Voraussetzung für eine schmerzfreie Ejakulation.

Die Verurteilung der männlichen Beschneidung halte ich für eine realitätsferne politische Correctness. Auch ich bin, wie Terre des Femmes, der Auffassung, dass religiöse Argumente kein Grund sein dürfen für die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit eines Kindes. Und die Beschneidung ist zweifellos eine solche Verletzung. Aber: Sie ist eine sehr, sehr geringe – und es sprechen für mich vor allem hygienische Gründe dafür, unabhängig von Religion und Kultur.

Es ist also wirklich befremdlich, dass die Kölner Universitätsklinik Anlass sah zur Anzeige des Arztes, der den Eingriff medizinisch korrekt durchgeführt hatte. Und es ist noch bizarrer, dass das Kölner Landgericht dieses Urteil gesprochen hat. Doch jetzt ist sie da: die Rechtsunsicherheit.

Das Jüdische Krankenhaus in Berlin hat bereits erklärt, es werde bis zur Klärung keine Beschneidung von kleinen Jungen mehr durchführen – wie sie im Judentum für Gläubige bis zum achten Lebenstag vorgeschrieben ist. Der Koran schreibt die Beschneidung zwar nicht vor, aber sie ist bei Muslimen zwischen dem dritten und achten Lebensjahr üblich. In dem Fall in Köln handelte es sich übrigens um einen vierjährigen Jungen muslimischer Eltern.

Krankenhäuser bekommen viel zu sehen, auch die Folgen seelischer und körperlicher Gewalt gegen Kinder und Frauen. Aber sie zeigen sehr selten an. Und auch Gerichte haben oft zu entscheiden, auch über die Folgen seelischer und körperlicher Gewalt gegen Kinder und Frauen. Aber sie sprechen sehr selten klare oder gar strenge Urteile. Warum also dieses so ganz und gar realitätsferne und überflüssige Urteil zur Beschneidung von Jungen?

Alice Schwarzer